Warum ich ihn noch immer liebe, obwohl er mich zerstört hat
Es ist eine stille Qual, die viele Menschen durchleben, oft im Verborgenen. Sie lieben jemanden, der ihnen nicht guttut. Jemanden, der sie klein gemacht, verletzt, kontrolliert oder psychisch manipuliert hat.
Und trotzdem ist da dieses hartnäckige Gefühl: „Ich liebe ihn noch immer.“ Eine Liebe, die nicht heilt, sondern weiter weh tut. Warum geschieht das? Warum ist das Loslassen oft so unendlich schwer – selbst dann, wenn der Verstand längst weiß: Dieser Mensch war nicht gut für mich?
Die Anfangsphase – Liebe auf den ersten Schmerz
Toxische Beziehungen beginnen oft mit einem emotionalen Feuerwerk. Die Verbindung scheint sofort tief, leidenschaftlich und einzigartig.
Der Partner gibt einem das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Man fühlt sich gesehen, verstanden, begehrt. Diese idealisierte Anfangszeit hinterlässt eine Art emotionalen Abdruck – ein „emotionales Hoch“, nach dem man sich später sehnt, wenn die Beziehung kippt.
Was viele nicht wissen: Diese intensive Anfangsphase kann ein Warnsignal sein – besonders wenn sie zu schnell, zu stark, zu überfordernd ist. Sie kann Zeichen einer narzisstischen Dynamik oder einer künftigen emotionalen Abhängigkeit sein. Doch in dem Moment fühlt es sich wie „die große Liebe“ an.
Der schleichende Wandel – und das schwindende Selbst
Nach dieser euphorischen Anfangszeit beginnt sich oft etwas zu verändern. Kritik, Rückzug, emotionale Kälte, Manipulation oder Kontrolle schleichen sich ein.
Doch anstatt sofort zu gehen, versucht man, die Beziehung zu retten. Denn man hat bereits investiert – Gefühle, Zeit, Vertrauen.
In dieser Phase beginnt oft der innere Zerfall. Man stellt sich selbst in Frage, sucht Fehler bei sich, passt sich an.
Und oft macht man sich selbst verantwortlich für das Unglück: „Wenn ich nur liebevoller wäre… ruhiger… verständnisvoller…“ Diese Selbstzweifel nagen am eigenen Selbstwert. Man verliert langsam den Kontakt zu sich selbst.
Warum bleibt das Herz – obwohl der Schmerz überwiegt?
Die Antwort liegt selten in „echter“ Liebe, sondern oft in unbewussten psychologischen Mustern:
Kindliche Bindungsmuster
Menschen, die in ihrer Kindheit gelernt haben, dass Liebe mit Unsicherheit, Kontrolle oder Vernachlässigung einhergeht, suchen später oft unbewusst genau diese Muster.
Es ist das, was sie kennen – und Vertrautheit fühlt sich sicher an, auch wenn sie schmerzhaft ist. Diese alten Wunden ziehen einen magisch zu Partnern, die das Vertraute wiederholen.
Traumabindung
Wenn eine Beziehung zwischen Nähe und Schmerz schwankt – also zwischen intensiver Zuwendung und emotionaler Grausamkeit –, entsteht oft eine sogenannte Traumabindung.
Der Körper wird süchtig nach dem Wechselspiel von Hoffnung und Enttäuschung. Das emotionale Hoch nach einem Streit oder einem Rückzug fühlt sich dann an wie „Liebe“, obwohl es nur die kurzfristige Erleichterung nach einem inneren Entzug ist.
Idealisierung und Hoffnung
Viele Menschen verlieben sich nicht in den realen Partner, sondern in das Bild, das sie sich von ihm gemacht haben. Sie lieben das Potenzial, nicht die Realität.
Und sie halten an der Hoffnung fest, dass dieser Mensch sich doch noch ändern wird – „zurück zu dem, wie er am Anfang war.“
Geringes Selbstwertgefühl
Wer sich selbst nicht als wertvoll erlebt, bleibt oft bei Partnern, die diesen inneren Glauben bestätigen:
„Ich verdiene nicht mehr.“ In einer toxischen Beziehung kann es sich fast wie „normal“ anfühlen, nicht gesehen, verletzt oder abgewertet zu werden – weil man nichts anderes kennt.
Die emotionale Abhängigkeit
Liebe kann abhängig machen – besonders dann, wenn sie mit Entzug, Kontrolle und emotionaler Unberechenbarkeit verbunden ist.
Das Gehirn reagiert auf diese Beziehung wie auf eine Sucht: mit Hormonen wie Dopamin, Adrenalin und Oxytocin.
Das erklärt, warum man trotz Verletzung und Tränen immer wieder zurückgeht, verzeiht, hofft. Und warum es so schwer ist, sich dauerhaft zu lösen.
Warum die Trennung oft härter ist als die Beziehung selbst
Der Moment, in dem man geht oder gegangen wird, fühlt sich oft an wie der totale emotionale Zusammenbruch.
Nicht nur, weil man einen geliebten Menschen verliert, sondern auch, weil das ganze emotionale Konstrukt in sich zusammenfällt: die Hoffnung, die Zukunftspläne, das Bild von sich selbst als liebenswertem Menschen. Diese Leere kann sich schlimmer anfühlen als der Schmerz innerhalb der Beziehung.
Viele Betroffene fallen in dieser Phase in eine tiefe Krise. Sie fragen sich: „Was stimmt nicht mit mir?“ – dabei ist diese Krise kein Beweis für Schwäche, sondern ein Zeichen dafür, wie tief die emotionale Verbindung war – auch wenn sie ungesund war.
Der Weg zurück zu sich selbst
Heilung beginnt mit der Entscheidung, sich selbst ernst zu nehmen – und sich nicht mehr in einer Beziehung zu verlieren. Es braucht Mut, Geduld und oft professionelle Begleitung. Aber der Weg lohnt sich.
Was hilft?
Therapie oder Coaching: Besonders hilfreich sind traumazentrierte Therapieansätze oder Begleitung durch Coaches, die sich mit narzisstischen und toxischen Beziehungsdynamiken auskennen.
Kontaktabbruch (No Contact): Um wirklich zu heilen, braucht es oft eine klare Distanz – keine Nachrichten, kein „nur als Freunde“, kein Wiedersehen.
Tagebuch führen: Eigene Gedanken und Gefühle aufzuschreiben hilft, Klarheit zu gewinnen und Muster zu erkennen.
Selbstliebe üben: Das bedeutet nicht, sich ständig toll zu finden – sondern sich selbst Mitgefühl zu schenken, auch in Momenten von Schwäche, Rückfall oder Schmerz.
Neue Rituale schaffen: Spaziergänge, Atemübungen, Musik, kreative Hobbys – all das hilft, die Verbindung zu sich selbst zu stärken.
Sich erinnern, was man verdient: Liebe, Respekt, Sicherheit, Verlässlichkeit – das sind keine Luxusgüter, sondern Grundbedürfnisse. Du darfst sie haben. Du verdienst sie.
Fazit
Zu lieben, obwohl man verletzt wurde, ist menschlich. Es bedeutet nicht, dass du schwach bist – sondern dass du tief fühlst.
Doch echte Liebe darf dich nicht zerstören. Sie darf dich nicht klein machen. Sie sollte dich wachsen lassen, nicht brechen. Wenn du bereit bist, hinzuschauen, zu verstehen und loszulassen, beginnt eine neue Reise: die Rückkehr zu dir selbst.
Und irgendwann – wenn genug Zeit vergangen ist, wenn du dich selbst wiedergefunden hast – wirst du zurückblicken und wissen:
Ich habe überlebt. Ich habe gelernt. Ich liebe – aber endlich auf gesunde Weise.