Angepasstes Kind – Wenn Liebe Leistung war
Vielleicht kennst du das auch. Dieses Gefühl, immer „funktionieren“ zu müssen. Immer freundlich zu sein, hilfsbereit, leistungsbereit. Nicht zu laut, nicht zu wütend, nicht zu bedürftig. Einfach „einfach“ zu sein.
Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass ich kein „braves Kind“ war, weil ich so ausgeglichen und vernünftig war. Sondern weil ich gelernt hatte, dass meine Bedürfnisse nur dann Platz hatten, wenn sie niemandem zur Last fielen. Und dass Liebe – oder das, was sich wie Liebe anfühlte – an Bedingungen geknüpft war.
Vielleicht war es kein Satz, der gesagt wurde. Vielleicht war es ein Blick, ein Seufzen, ein Wechsel der Stimmung. Ein Kommentar wie: „Jetzt ist aber gut, sei nicht so empfindlich“ oder „Mach doch einfach, was man dir sagt“.
Und du hast gemacht. Immer gemacht. Hast dich bemüht, nicht aufzufallen, weil du wusstest: Wenn du aneckst, wird’s schwierig.
Ich erinnere mich an das warme Gefühl, das ich bekam, wenn ich gelobt wurde. Nicht für mein Wesen, sondern für meine Leistung. Für meine Hilfsbereitschaft. Für meine Anpassung. Das war wie ein kleines Licht – ein kurzer Moment, in dem ich das Gefühl hatte, richtig zu sein. Und deshalb habe ich versucht, immer mehr davon zu bekommen.
Irgendwann habe ich mich selbst dabei beobachtet, wie ich mich auch als Erwachsene so verhielt. Ich spürte kaum, was ich eigentlich wollte, aber ich konnte sehr genau spüren, was die anderen brauchten. Ich hatte einen inneren Scanner, der sofort reagierte, wenn jemand unzufrieden oder enttäuscht wirkte – und ich stellte mich sofort darauf ein.
Grenzen setzen? War schwierig. Ich hatte ja gelernt, dass mein „Nein“ nur dann gilt, wenn es niemanden stört. Dass mein „Ich kann gerade nicht“ automatisch als Egoismus ausgelegt wird. Also sagte ich lieber „Ja“. Zu oft, zu schnell, zu allem.
Und dann wundert man sich, warum man sich so leer fühlt. So müde. So fremd im eigenen Leben.
Ich erinnere mich an eine Situation, in der mich jemand fragte: „Was brauchst du?“ Und ich war still. Nicht, weil ich es nicht sagen wollte – sondern weil ich es wirklich nicht wusste.
Das ist, glaube ich, der Punkt: Wenn man als Kind gelernt hat, dass Liebe verdient werden muss, dann vergisst man irgendwann, dass man auch einfach geliebt werden darf. Ohne Bedingungen. Ohne Leistung. Ohne Maske.
Es war ein schleichender Prozess, das zu erkennen. Kein „großes Erwachen“. Eher ein vorsichtiges Hineinspüren. In Gesprächen, in Therapiesitzungen, in Momenten des Alleinseins.
Ich habe begonnen, mir selbst zuzuhören. Mich zu fragen: Was ist meine Stimme – und was ist die, die ich von früher übernommen habe? Die Stimme, die sagt: „Reiß dich zusammen.“ Oder: „Mach’s allen recht.“
Manchmal höre ich sie immer noch. Und manchmal handle ich auch danach. Aber immer öfter merke ich es. Und dann halte ich kurz inne.
Ich glaube nicht, dass man das einfach „ablegen“ kann. Es ist ein Teil von mir. Aber ich lerne, es nicht mehr als Wahrheit zu sehen, sondern als Muster. Als etwas, das mir mal gedient hat – aber heute nicht mehr muss.
Es gibt keine schnelle Lösung. Kein „Jetzt bin ich frei davon“. Aber es gibt kleine Schritte. Ein ehrliches „Nein“, das man ausspricht, obwohl das Herz klopft. Ein Moment, in dem man für sich selbst sorgt, auch wenn jemand anderes enttäuscht ist.
Und auch das: Nachsicht mit sich selbst. Wenn man merkt, dass man wieder gefallen wollte, wieder zu schnell „Ja“ gesagt hat.
Vielleicht ist das der Anfang: Zu sehen, dass hinter dem angepassten Kind ein echter Mensch steckt. Mit echten Gefühlen. Mit Bedürfnissen. Mit Wut, mit Sehnsucht, mit eigener Wahrheit.
Und dass man all das nicht ablegen muss, um geliebt zu werden.
Dass man nicht mehr leisten muss, um zu verdienen.
Sondern dass man sich – Schritt für Schritt – die Erlaubnis geben darf, einfach da zu sein.
Unangepasst. Und echt.