Vorfälle in der Kindheit können das Gehirn drastisch verändern

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Vorfälle in der Kindheit können das Gehirn drastisch verändern

Wenn Sie sich jemals gefragt haben, warum Sie schon etwas zu lange mit chronischen emotionalen und körperlichen Beschwerden zu kämpfen haben, die einfach nicht abklingen wollen, und sich fühlen, als würden Sie gegen einen unsichtbaren Strom schwimmen, der nie aufhört, dann könnte ein neues wissenschaftliches Forschungsgebiet Hoffnung, Antworten und heilende Erkenntnisse bieten.

1995 begannen die Ärzte Vincent Felitti und Robert Anda eine umfangreiche epidemiologische Studie, die die Vorgeschichte von 17.000 Probanden bei Kindern und Jugendlichen untersuchte und ihre Kindheitserfahrungen mit ihren späteren Gesundheitsdaten als Erwachsene verglichen.

Die Ergebnisse waren schockierend: Fast zwei Drittel der Personen hatten eine oder mehrere ungünstige Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACEs) gemacht – ein Begriff, den Felitti und Anda geprägt haben, um die chronischen, unvorhersehbaren und stressauslösenden Ereignisse zu beschreiben, denen manche Kinder ausgesetzt sind.

Dazu gehörten das Aufwachsen mit einem depressiven oder alkoholkranken Elternteil, der Verlust eines Elternteils durch Scheidung oder andere Ursachen, chronische Demütigungen, emotionale Vernachlässigung oder sexueller und körperlicher Missbrauch.

Diese Formen von emotionalen Kindheitstraumata gingen über die typischen, alltäglichen Herausforderungen des Aufwachsens hinaus.

  • Bei Personen, die mit vier oder mehr Kategorien von ACEs konfrontiert waren, war die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, doppelt so hoch wie bei Personen, die keine widrigen Umstände in ihrer Kindheit erlebt hatten.
  • Für jeden ACE-Score, den eine Frau hatte, stieg ihr Risiko, mit einer Autoimmunerkrankung ins Krankenhaus eingeliefert zu werden, um 20 Prozent.
  • Ein ACE-Score von 6 oder höher verkürzte die Lebenserwartung eines Menschen um fast 20 Jahre.

Aus der ACE-Studie geht hervor, dass chronischer, unvorhersehbarer toxischer Stress in der Kindheit uns für eine Reihe chronischer Erkrankungen im Erwachsenenalter prädisponiert. Aber warum?

Einige dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse über Kindheitstraumata können ein wenig überwältigend sein, und sie zwingen uns, einen neuen Blick darauf zu werfen, wie emotionaler und körperlicher Schmerz miteinander verbunden sind.

1. Der Verlust der Fähigkeit, effektiv auf zukünftige Stressoren zu reagieren

Wenn wir in der Kindheit oder Jugend immer wieder in stressauslösende Situationen geraten, schaltet unsere physiologische Stressreaktion auf Hochtouren, und wir verlieren die Fähigkeit, auf künftige Stressoren angemessen und wirksam zu reagieren – 10, 20 oder sogar 30 Jahre später.

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Dies geschieht durch einen Prozess, der als Gen-Methylierung bekannt ist, bei dem sich kleine chemische Marker, sogenannte Methylgruppen, an die Gene anlagern, die an der Regulierung der Stressreaktion beteiligt sind, und diese Gene daran hindern, ihre Aufgabe zu erfüllen.

Da die Funktion dieser Gene verändert wird, wird die Stressreaktion lebenslang auf hoch eingestellt, was Entzündungen und Krankheiten fördert.

Dies kann dazu führen, dass wir auf die alltäglichen Stressfaktoren, denen wir als Erwachsene begegnen, überreagieren. Eine unerwartete Rechnung, ein Streit mit dem Ehepartner, sodass dadurch mehr Entzündungen verursachen.

Dies wiederum prädisponiert uns für eine Reihe von chronischen Erkrankungen, darunter Autoimmunerkrankungen, Herzkrankheiten, Krebs und Depressionen.

Tatsächlich fanden Forscher in Yale heraus, dass Kinder, die chronischem, toxischem Stress ausgesetzt waren, Veränderungen „im gesamten Genom“ in Genen aufwiesen, die nicht nur die Reaktion auf Stress verfolgen, sondern auch Gene, die mit verschiedenen Krankheiten im Erwachsenenalter in Verbindung gebracht werden.

2. Schrumpfung von Größe und Form des Gehirns

Vorfälle in der Kindheit können das Gehirn drastisch verändern

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass das sich entwickelnde Gehirn bei chronischem Stress ein Hormon freisetzt, das den Hippocampus schrumpfen lässt, einen Bereich des Gehirns, der für die Verarbeitung von Emotionen und Erinnerungen sowie die Stressbewältigung zuständig ist.

Jüngste Magnetresonanztomografie-Studien deuten darauf hin, dass je höher der ACE-Wert einer Person ist, desto weniger graue Substanz in anderen Schlüsselbereichen des Gehirns vorhanden ist, darunter der präfrontale Kortex, ein Bereich, der mit der Entscheidungsfindung und den Fähigkeiten zur Selbstregulierung zusammenhängt, und die Amygdala, das Zentrum für die Verarbeitung von Angst.

Kinder, deren Gehirne durch negative Kindheitserfahrungen verändert wurden, werden als Erwachsene eher überreagieren, selbst bei geringfügigen Stressfaktoren.

3. Telomere

Frühe Traumata können dazu führen, dass Kinder emotional gesehen „älter“ erscheinen als ihre Altersgenossen. Jetzt haben Wissenschaftler der Duke University, der University of California, San Francisco, und der Brown University herausgefunden, dass ungünstige Kindheitserfahrungen Kinder auch auf zellulärer Ebene vorzeitig altern lassen können.

Erwachsene, die ein frühes Trauma erlebt haben, weisen eine stärkere Erosion der sogenannten Telomere auf – der Schutzkappen, die wie die Kappen an den Schnürsenkeln auf den Enden der DNA-Stränge sitzen und das Genom gesund und intakt halten. Wenn unsere Telomere erodieren, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass wir die Krankheit entwickeln, und unsere Zellen altern schneller.

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4. Schwierigkeiten, angemessen auf die Welt um sie herum zu reagieren

In jedem unserer Gehirne befindet sich ein Netzwerk von Neuroschaltkreisen, das sogenannte „Standardmodus-Netzwerk“, das leise vor sich hin brummt, wie ein Auto im Leerlauf in der Einfahrt.

Es verbindet Bereiche des Gehirns, die mit dem Gedächtnis und der Gedankenintegration in Verbindung stehen, und ist immer in Bereitschaft, um uns zu helfen, herauszufinden, was wir als Nächstes tun müssen.

„Die dichte Konnektivität in diesen Hirnregionen hilft uns dabei, zu entscheiden, was relevant ist und was nicht, sodass wir auf alles vorbereitet sind, was unsere Umwelt von uns verlangt“, erklärt Ruth Lanius, Neurowissenschaftlerin.

Wenn Kinder jedoch schon früh mit Widrigkeiten konfrontiert werden und routinemäßig in einen Kampf-oder-Flucht-Zustand versetzt werden, beginnt das Standardmodus-Netzwerk offline zu gehen; es hilft ihnen nicht mehr herauszufinden, was wichtig ist oder was sie als Nächstes tun müssen.

Lanius zufolge haben Kinder, die früh traumatisiert wurden, auch noch Jahrzehnte nach dem Trauma eine geringere Konnektivität im Standardmodus-Netzwerk.

Ihre Gehirne scheinen nicht in diesen gesunden Ruhezustand zu gelangen, sodass sie Schwierigkeiten haben können, angemessen auf ihre Umwelt zu reagieren.

5. Stress führt zu körperlichem Leiden

Bis vor kurzem galt es als wissenschaftlich anerkannt, dass das Gehirn „immun privilegiert“ ist, also vom Immunsystem des Körpers abgeschnitten.

Laut einer bahnbrechenden Studie, die von Forschern der University of Virginia School of Medicine durchgeführt wurde, ist dies jedoch nicht der Fall.

Die Forscher fanden heraus, dass ein schwer fassbarer Weg zwischen dem Gehirn und dem Immunsystem über Lymphgefäße verläuft.

Das Lymphsystem, das Teil des Kreislaufsystems ist, transportiert die Lymphe – eine Flüssigkeit, die bei der Beseitigung von Giftstoffen hilft und Immunzellen von einem Teil des Körpers zum anderen befördert. Jetzt wissen wir, dass der Weg des Immunsystems auch das Gehirn umfasst.

Die Ergebnisse dieser Studie haben tiefgreifende Auswirkungen auf die ACE-Forschung. Bei einem Kind, das Widrigkeiten erlebt hat, besteht ein enger Zusammenhang zwischen psychischem und physischem Leiden:

Die entzündungsfördernden Chemikalien, die den Körper eines Kindes überfluten, wenn es chronisch gestresst ist, sind nicht nur auf den Körper beschränkt, sondern werden von Kopf bis Fuß transportiert.

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6. Höheres Risiko für die Entwicklung von Angstzuständen und Depressionen

Ryan Herringa, Neuropsychiater und Assistenzprofessor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität von Wisconsin, fand heraus, dass Kinder und Jugendliche, die in ihrer Kindheit chronisch gestresst waren, schwächere neuronale Verbindungen zwischen dem präfrontalen Kortex und dem Hippocampus aufwiesen.

Mädchen zeigten auch schwächere Verbindungen zwischen dem präfrontalen Kortex und der Amygdala.

Die Beziehung zwischen präfrontalem Kortex und Amygdala spielt eine wesentliche Rolle bei der Bestimmung, wie emotional wir auf die Dinge reagieren, die uns im Alltag passieren, und wie wahrscheinlich es ist, dass wir diese Ereignisse als stressig oder gefährlich wahrnehmen.

Herringa erklärt: „Wenn Sie ein Mädchen sind, das ungünstige Kindheitserfahrungen gemacht hat, können Sie davon ausgehen, dass Sie in fast jeder stressigen Situation, die Ihnen im Laufe des Lebens begegnet, ein höheres Maß an Angst und Furcht empfinden.“

Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse können überwältigend sein, insbesondere für diejenigen unter uns, die Eltern sind.

Was können Sie also tun, wenn Sie oder ein Kind, das Sie lieben, von frühen Widrigkeiten betroffen sind?

Die gute Nachricht ist, dass unser wissenschaftliches Verständnis darüber, wie sich Widrigkeiten auf das sich entwickelnde Gehirn auswirken.

Ebenso wächst wie unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, wie wir den Kindern, die wir lieben, eine widerstandsfähige Erziehung bieten können und wie wir alle kleine Schritte zur Heilung von Körper und Gehirn unternehmen können.

So wie körperliche Wunden und Prellungen heilen, so wie wir unseren Muskeltonus wiedererlangen können, können wir auch die Funktion unterversorgter Gehirnbereiche wiederherstellen. Das Gehirn und der Körper sind nie statisch; sie sind immer im Prozess des Werdens und der Veränderung.

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